Liebe Mitglieder,
liebe Freundinnen und Freunde unserer Gemeinde,
  
Einer der Jünger war nicht dabei, als der auferstandene Jesus sich den anderen gezeigt hat: Thomas. Und nun treffen sie ihn. Sie erzählen Thomas voller Freude, aber auch hin- und hergerissen zwischen Glauben und Zweifel, wie Jesus sich ihnen gezeigt und mit ihnen gesprochen hat. Und Thomas reagiert wie ein echter Empiriker: „Wenn ich nicht seine Wundmale anfassen kann und mich überzeugen, dass er es wirklich ist, glaub ich euch das nicht!“ Versuch macht klug! Und tatsächlich, als Jesus wieder zu ihnen kommt, ist Thomas dabei. Jesus bittet ihn ganz freundlich, sich davon zu überzeugen, dass er es wirklich ist. Thomas ist überwältigt und überzeugt. Das stärkste Glaubensbekenntnis von allen quillt ausgerechnet aus ihm, dem zuvor „Ungläubigen Thomas“: „Mein Herr und mein Gott!“ stammelt er. Daraufhin Jesus: „Du glaubst, weil Du mich siehst. Selig sind aber die, die nicht sehen und doch glauben.“
Über diese Geschichte wird sich viel geärgert. Aber Ärger, meiner und fremder, weist mich oft auf etwas Wichtiges hin, was ich dazulernen kann. Zum Beispiel fehlt das Thomasbekenntnis „Mein Herr und mein Gott“ in der „Bibel“ der Zeugen Jehovas. So stellten wir gemeinsam fest, als ich noch regelmäßig von ihnen besucht wurde. Dieses starke Glaubensbekenntnis wurde dort zurechtgebogen,  weil  es nicht  in die übrige  Lehre  passte.  Es  stellt  nämlich die Frage, wer Jesus  Christus für mich ist, und

Der Tallinner Rathausplatz in weihnachtlichem Glanz Foto: N. Hollender

 

auch wer Gott ist. Kann ich das Thomasbekenntnis mitsprechen? Und wenn nicht? Schreibe ich die Bibel um, oder ignoriere diese Stelle einfach? Versuch macht klug ist übrigens gar keine so ungeeignete Methode um Glauben zu lernen. Jesus selbst ermutigt uns dazu: „Wenn jemand Gottes Willen tun will, wird er innewerden, ob diese Lehre von Gott ist, oder ob ich von mir selber rede.“ (Joh 7,17)
Thomas jedenfalls ist überwältigt von Gottes Wahrheit und Kraft. Christus kann uns auch heute so begegnen, dass wir von der Freude über seine Gegenwart überwältigt sind. Er führt uns in einen festen Glauben an ihn, der keine sinnlichen Bestätigungen mehr braucht, der mich trägt und hält, mich führt und leitet, der sicher ist,- auch in allen gelegentlichen Zweifeln-, wie das Amen in der Kirche.
Einen tragenden, festen Glauben an Christus wünschten sich wohl auch die alten Revaler. Der Thomastag ist der kürzeste Tag im Jahr, der 21. Dezember. Bei uns am 59. Breitengrad ist es dann tatsächlich nur kurz hell, besonders wenn es dazu noch bewölkt ist. In der langen Nacht dieses Tages erschließt sich, warum der 21. Dezember zum Thomastag erkoren wurde. Was sagte Jesus gleich zu Thomas? „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Selig, die trotz der Dunkelheit glauben, und ein Licht in ihr anzünden.
Am Thomastag trugen die Brüder der Schwarzhäuptergilde den Weihnachtsbaum auf den Rathausplatz. Der Brauch des „Baumtragens“ wurde etwa 300 Jahre lang gepflegt. Auf dem Rathausturm steht bis heute das Wahrzeichen Tallinns – „der alte Thomas“- Wache, nicht der alte Peter, Georg oder Michel, sondern der alte Thomas. In dieser Stadt im hohen Norden hatten der Thomastag und seine Geschichte besondere Bedeutung. Diese Bräuche erzählen uns von der Sehnsucht, auch so einen tiefen und festen Glauben an Christus zu bekommen, obgleich wir ihn nicht sehen können. Eine Sehnsucht, die uns Christen in Estland bis heute erfüllt, aber sich immer wieder auch in uns erfüllt.
Einen gesegneten Thomastag und ein frohes Weihnachtsfest!
Ihr/Euer     
  Matthias Burghardt, Pfarrer