Die Menschheit ist in Bewegung wie selten zuvor, von Süd nach Nord und von Ost nach West, dorthin, wo es besser zu sein scheint. Und dieWohlstandsgesellschaften sind in der Krise: was tun? Sich der Wanderungöffnen? Oder sich verschliessen? Sich um Werte und Haltungen bemühen, die die Gesellschaft bisher geprägt haben? Oder sich neuenMasstäben öffnen, die Gesellschaft umbauen und der Kultur der neuenBevölkerung anpassen? Die Erwartungen der Einwanderer sind zum Teil realistisch, zum Teil überzogen: Es ist nicht das Reich Gottes, zu dem sie unterwegs sind.
Wie sollen wir darauf reagieren, als Christen? Vor genau dieser Fragestanden die Apostel. Wir werden in den Briefen des Apostel Paulus und inder Apostelgeschichte Zeugen einer globalen Veränderung. Der Heilige Geist ist es, der Geist Jesu Christi, der in seiner brennenden Menschenliebe alle Grenzen wegfegt!Auch die Grenzen, in denen die ersten Christen traditionell und selbstverständlich eine Ordnung Gottes sahen: Der Apostel Petrus, selbst Jude, tauft in Apg 10 eine römische Zenturionsfamilie -er hätte als frommer Jude nicht mal seinen Fuss über deren Türschwelle setzen dürfen!Das ist ungeheuer provokativ und hat für viel Ärger gesorgt!Petrus selbst ist später eingeknickt (Galater 2, 12-16), als die -ehemals- frommen Juden ihm Vorhaltungen machen. Für Petrus muss das Einknicken bitter gewesen sein: eine Erinnerung daran, wie der Hahn dreimal krähte… Aber dieser Umstand zeigt uns einen sehr menschlichen Apostel, der keinesfalls frei von Fehl und Tadel ist, ein Sünder und ein Unschlüssiger wie ich und Du. Schliesslich wird von den Aposteln beschlossen, was Gott offenbar schon längst beschlossen hat: Jeder Mensch, der Hunger nach Gott hat, der Hunger nach Liebe hat, der nach Weisheit hungert und nach Trost, der Vergebung möchte-der soll kommen!In der Bergpredigt (Mt 5) klingt Jesu ungeheuer umfassender Einladungsruf!Selig sind die Hungernden, Durstenden, Suchenden, Mühseligen, Beladenen. Gott macht keinen Unterschied aus Gründen der Rechtgläubigkeit. Und hier, zu Beginn des apostolischen Zeitalters, wiederholt sich die Einladung: Gegen alle Widerstände derer, die Gottes bisherige Ordnung treu befolgen wollen: Die Christen gehen zu den Heiden und bringen ihnen die Frohe Botschaft von der Liebe und Gerechtigkeit Gottes in Jesus Christus.

Das alte Tallinn (Reval) von See her gesehen

Was heisst das jetzt für uns? Sollen wir alles einreissen, was noch steht, uns mutig in die neue Zeit werfen, nur auf Gott und seine Leitung vertrauen? Ja. Und nein. Zwei Dinge sind dabei zu beachten: Zum einen ist es tatsächlich so, dass Gottes brennende Liebe vor keinem Menschen Halt macht, vor keiner Konvention und vor keiner Regel und Ordnung. Wir können als Christen nicht sagen: “Bis hierher reicht die Liebe Gottes, bis zu diesem Menschen-aber zu dem da drüben nicht mehr!” Das ist, wenn man es aus dem Bereich christlicher Formeln in den Alltag überträgt, revolutionär, zumindest für mein Denken. Meine Mutter begann 1980 mit einer Freundin zusammen den Aufbau eines Spielkreises für türkische Kinder in unserer Stadt, mit dem Ziel, Grundkenntnisse des Deutschen zu vermitteln. Das war und ist mir ein grosses Vorbild. Christliche Liebe bricht alle Schranken der Konvention und der Phantasielosigkeit. Was kann sich alles bewegen, wenn ich diese Liebe erbitte und sie anderen schenke? Ich erreiche völlig neue Menschen und völlig andere Lebenssituationen, wenn die Liebe Christi (wenigstens ab und zu) in meinem Herzen brennt-so wie bei den Aposteln!Ich sehe Wunder geschehen, denn Menschenherzen werden durch Liebe gewonnen, das Predigen einer ewigen göttlichen Ordnung (theologisch gesprochen: “des Gesetzes”) wird dagegen notwendigerweise die Mehrzahl der Hörer abschrecken. Eine Minderheit nimmt solche Predigt an. Aber sie wird dann mitunter zu fanatischen Verfechtern dieser Ordnung, die alle, die nicht so sind wie sie, hinausdrängen. Vom Apostel Paulus hören wir: “Alle eure Dinge lasst in der Liebe geschehen.” So gesehen bin ich oft noch viel zu verzagt und viel zu wenig „global“ im christlichen Sinne.
Aber zum anderen darf man den Bogen auch nicht überspannen. Die Ordnungen und Gesetze sind ja nicht an und für sich falsch. Und es ist kein schöner Götterfunken, der den Christen zu seinem Nächsten zieht, es ist kein allgemeines Menschliches, was uns als Kirche leitet, es ist nicht das “Reich Europa” (oder das “Reich Russland”), was wir in der Welt aufrichten sollen, es ist keine Ideologie, die nach unseren Herzen greift, sei sie konservativ oder progressiv. Es ist nicht mal Liebe um der Liebe willen—sondern Liebe um Christi Willen. Die radikale Zuwendung Christi zum Nächsten, an der seine Kirche teilnimmt, ist nicht deshalb gut, weil sie radikale Zuwendung ist, sondern weil es Christi Wille und Tat ist. Das heisst: alles was wir tun, sollen wir im Namen Christi tun. Wir bleiben an den konkreten Willen Gottes gebunden. Und damit auch im Normalfall an die von Gott gesetzten Ordnungen, sofern sie den Lauf des Evangeliums nicht hemmen. Mehrfach sagt Gott im Evangelium über Jesus: Das ist mein lieber Sohn, den sollt ihr hören. Also hören wir ihn! Und bleiben wir zusammen, wie er es uns gesagt hat, weder uns ängstlich an Dinge klammernd, die zu Hindernissen geworden sind, noch im Gefühl universeller Freiheit so voranpreschend, dass keiner mehr folgen kannund womöglich noch in die falsche Richtung! Die Verklärungsgeschichte Christi endet mit den Worten: Als sie aufsahen, sahen sie niemanden als Jesus allein. Das wünsche ich mir! Jesus vor Augen und Liebe im Herzen. Dann kann, auch global betrachtet, nichts schiefgehen.

Herzliche Grüße

Ihr / Euer Pastor Matthias Burghardt