Grußwort zur Amtseinführung von Pastor Burghardt am 31. März 2013

von Herrn Hansfried Wendler, der nach dem Krieg in im Haus von Oberpastor Joseph Sedlatschek (bis 1940 Pastor der deutschen Johanniskirchengemeinde, Tartu) aufwuchs

Herzlichen Glückwunsch Herrn Pastor Burghardt, dem Kirchenvorstand und der ganzen Gemeinde zu dem großen Erfolg, den Sie an diesem Osterfest feiern können. Sehr, sehr gern wäre ich auch jetzt wieder nach Estland gereist. Dieses Mal, um im Rahmen der Feierlichkeiten die Brücke zu Oberpastor Joseph Sedlatschek zu bauen. Leider kann ich aus Termingründen nicht kommen, werde aber trotz ziemlich großer Entfernung in Gedanken mitfeiern.
Gestatten Sie mir deshalb, hier ein paar Streiflichter zur Erinnerung an meinen hochverehrten, sehr viel älteren Freund und seine lieben Angehörigen aufzustecken.  Zum ersten Mal hatten sich unsere Wege 1940 gekreuzt, im Kreis Posen, als umgesiedelte Baltendeutsche in die Stadt kamen, deren Bürgermeister unser Vater war. Als damals Vierjähriger habe ich nicht geahnt, daß in der Menschenmenge, die vom Bahnhof zu den neuerbauten „Behelfsheimen“ wanderte, zwei Menschen waren, die in meinem Leben noch eine besondere Rolle spielen würden, nämlich Oberpastor Joseph Sedlatschek und seine Frau. Er beschrieb später unser dortiges Haus exakt.

Amtseinführung von Pfarrer Matthias Burghardt durch den Erzbischof unserer Estnischen Ev.-Luth. Kirche, Andres Põder

Die Kriegsfolgen haben 1946 unsere Familie und 1949 auch Familie Sedlatschek nach Bredelar im Sauerland verschlagen. Er wurde erster Inhaber der neuen Pfarrstelle. Unser erster Kontakt war dienstlich; denn mit 13 habe ich in seinen Kindergottesdiensten die Pflicht an der Orgel übernommen. Die Zusammenarbeit war prächtig.
Einen gehörigen Schrecken bekam ich 1950, mit 14, als unsere etatmäßige Organistin ausfiel und ich ganz selbstverständlich auch im großen Gottesdienst in der immer vollbesetzten Kirche den Dienst übernehmen sollte. Auf meine sorgenvolle Bemerkung habe ich von seiner souveränen Gelassenheit profitiert, „das merkt doch keiner, wenn da oben einer aufgeregt ist.“ Das hat geholfen und alles lief immer erstklassig.
Zur Konfirmandenprüfung 1950 vor der Gemeinde hat er ganz diskret eine sehr fürsorgliche Glanzleistung organisiert, die ich erst danach durchschaut habe. Wir stellten uns nicht beliebig vor dem Altar auf, sondern er bestimmte die Reihenfolge. Scheinbar zufällig stand dann der Schwächste neben mir. Jeder mußte die erforderlichen Kenntnisse nachweisen. Als er meinen Nebenmann nach dem ersten Gebot fragte, war ich nicht besonders aufmerksam; denn erstens war ich ja nicht dran und zweitens war das die leichteste aller möglichen Fragen, die doch jeder aus dem Stand beantworten konnte. Nur mein Nebenmann nicht. Der stieß mich unauffällig an und flüsterte „du, sag mal.“ Das habe ich genau so leise getan und so hat auch er die erforderliche Leistung nachweisen können. Niemand hat bemerkt, welch geschickte Regie seinen Erfolg gesichert hatte. Herr Oberpastor war eben sehr souverän.
Als Konfirmationsspruch hat er für mich „Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch die Liebe ist die größte unter ihnen“ ausgesucht. Sie wissen schon, Korintherbrief. Nach meinem Gefühl war das der schönste von allen denkbaren Konfi-Sprüchen.
Damals herrschte noch immer größte Wohnungsnot. Die Vertriebenen waren extrem schlecht untergebracht. Als Frau Sedlatschek unsere Wohnsituation bemerkte, meinte sie nur kurz und bündig „so geht das nicht“ und bot mir ein Zimmer in ihrer Wohnung im neuerbauten Pfarrhaus. Das war für den kleinen Bub ein Segen, aber als auch noch ihre Tochter und ihre Enkelkinder dazukamen, war es für sie wirklich eng.
Die Gemeinschaft war sehr harmonisch und Höhepunkt des Tages war immer die familiäre Abendandacht von Oberpastor Sedlatschek. Die kleinen Enkel sangen die Abendliedchen schon kräftig mit, die ich auf dem Akkordeon begleitete Er verstand es immer, für alle einen tiefen Frieden über den Rest des Tages zu legen.
Er hat mir erzählt, daß er in Dorpat Studentenpfarrer gewesen war, daß er von den Bolschewiken zusammen mit allen übrigen Geistlichen, also evangelischen und orthodoxen, zum Tode verurteilt war, daß ihn aber eine estnische Krankenschwester aus dem Gefängnis herausgeschleust habe. Die habe er geheiratet. Frau Oberpastor, wie man damals sagte, hat ihm später noch einmal das Leben gerettet, nämlich als er in der sowjetischen Besatzungszone wiederum interniert worden war. Die Russen hegten generell höchstes Mißtrauen gegenüber den Baltendeutschen. In seinem Fall kam erschwerend hinzu, daß er 1929 eine Erinnerungsschrift zum 10. Jahrestag des bolschewistischen Massakers veröffentlicht hatte, dem neben allen anderen Geistlichen auch der berühmte Pastor Hahn und der orthodoxe Bischof zum Opfer gefallen waren. Seine energische Frau hatte ihn auch dort wieder herausgepaukt. Und ich hatte von ihrer zupackenden Art ja nun auch schon profitiert.
Nach zwei Jahren bekam unsere Familie eine ordentliche Wohnung zugeteilt und die Zeit im Pfarrhaus endete folglich. Viel später erzählte mir Frau Oberpastor, es habe ihr fast das Herz gebrochen, als ich, damals 16, wieder auszog.
Oberpastor Sedlatschek hat seinen dörflichen Gemeindedienst treu versehen. Aus einem im alten Gesangbuch aufgehobenen Dienstzettel beispielsweise kann ich noch heute ersehen, wann wir die vier Pfingstgottesdienste 1952 in Bredelar und den umliegenden Orten gehalten haben – und welche Choräle gesungen wurden.
Mir war aufgefallen, daß weit und breit niemand sonst den Titel Oberpastor führte. Oberpastor Sedlatschek hatte ungewöhnlich hohes Niveau und genoß überall höchstes Ansehen. Er hatte mir auch gesagt, daß er Oberpastor an St. Johannis in Dorpat gewesen war, dies aber nicht weiter ausgeführt.
Die Informationen, welch ein „hohes Tier“ er gewesen war und daß „seine“ Kirche 2005 in Anwesenheit des estnischen Staatspräsidenten und des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler wieder eingeweiht worden ist, verdanke ich erst den intensiven Forschungen von Frank Borchers und seinem hervorragenden Internetauftritt.
Aus den häufigen Erzählungen wurden Dorpat, Embach, Peipussee für mich zu mystischen Sehnsuchtsorten, die man hinter dem Eisernen Vorhang niemals werde besuchen können. Auch die immer wieder erwähnten Köstlichkeiten wie Sakusken und Piroggen würde ich nie in natura erleben können. Gut, daß alles wieder normal ist.
Mit der lieben, edlen Familie habe ich selbstverständlich auch weiter Kontakt gehalten, als ich Bredelar 1955 nach dem Abi verlassen hatte. Bis dahin hatte ich selbstverständlich auch weiterhin an der Orgel ausgeholfen.
Ein besonderes Drama bahnte sich an, als seine liebe Enkeltochter in München plötzlich von Krebs heimgesucht wurde, während sie an ihrer Dissertation arbeitete. Mit ihrem Arzt hätte ich mir beinahe die einzige Prügelei meines Lebens geliefert, weil er ihr nicht genügend vom dringend erforderlichen Morphium geben wollte.
Ina-Maria war eine Schönheit mit dem edlen Charakter ihres Großvaters. Als wir erkennen mußten, daß der Kampf nicht mehr zu gewinnen war, hat mir diese junge Frau anvertraut, sie werde leichter sterben, wenn sie wisse, daß ich ihr die Orgel spielen werde. Das habe ich ihr selbstverständlich versprochen. Sie hat mir vertrauensvoll völlig freie Hand gelassen, nur als letzten Choral der Trauerfeier wünschte sie sich „Großer Gott, wir loben dich“, weil sie es dann überstanden haben würde. So geschah es. Ich habe insgesamt ein musikalisches Opfer gestaltet, in dem selbstverständ¬lich auch der Lieblingschoral ihres guten Großvaters, „Ich bete an die Macht der Liebe“, einen feinen Platz fand. Danach ist meine Orgel für 25 Jahre verstummt.
Eine viel spätere Begebenheit hat mich zutiefst gerührt. Frau Oberpastor, hochbe-tagt im Katharinen¬stift, dem Altenheim der baltischen Landsmannschaft, und ihre Tochter, ebenfalls dort, konnten sich partout nicht einigen, ob Oberjoseph, wie er von den Seinen liebevoll genannt wurde, auch den berühmten Pastor Hahn beerdigt hatte. Frau Oberpastor wußte aber Rat: „Da muß man Hansfried fragen!“
Was im Januar 1919 geschehen war, lag damals schon lange zurück. Ihre Tochter, Jahrgang 1921, konnte davon nur gehört haben, aber der relativ junge Mensch vom Jahrgang 1936 würde es selbstverständlich wissen. Welch ein Vertrauen. Übrigens, ich konnte wirklich helfen; denn bei unseren vielen guten Gesprächen hatte Oberpastor Sedlatschek mir Jahrzehnte zuvor auch berichtet, er habe Pastor Hahn beerdigt.
Er und alle seine Angehörigen sind längst verstorben. So bleiben mir nur noch die Pflege ihrer Gräber sowie viele gute Erinnerungen an wundervoll liebe, edle Menschen, Baltendeutsche eben. Und glücklicherweise bleibt auch der überaus erfreuliche Kontakt zu einigen tüchtigen und sympathischen Menschen in der Heimat von Oberpastor Joseph Sedlatschek, die ich kennen- und sehr schätzenge-lernt habe.
Oberpastor Sedlatschek hat damals dem kleinen Buben auch berichtet, daß die Orthodoxen in deren Osternacht um ihre Kirche ziehen und etwas ausrufen, das ich als „Christós wos krést“ im Ohr habe und das „Christus ist auferstanden“ bedeutete.
So wünsche ich Ihnen allen ein frohes, gesegnetes Osterfest, in diesem Jahr mit besonders strahlendem Glanz.

Herzlichst
Ihr Hansfried Wendler

Ihr

Matthias Burghardt, Pfarrer